An welche fachkompetenten Anlauf- und Fachstellen wenden sich heute Menschen mit Behinderung, die sexuelle Gewalt erlitten haben? An wen richten sich Angehörige und Betreuungspersonen bei Verdacht auf sexuelle Übergriffe?
Um diese Kernfragen zu beantworten, beauftragte die verbandsübergreifende Arbeitsgruppe Prävention den Fachbereich Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule, eine Bestandesaufnahme zu den bestehenden Anlauf- und Fachstellen rund um das Thema sexuelle Gewalt zu erstellen. Dazu wurde im Sommer 2014 eine breit angelegte Onlinebefragung durchgeführt. Insgesamt 181 Organisationen aus allen Sprachregionen der Schweiz haben sich an der Erfassung beteiligt. Dazu zählen kantonale Opferhilfe-Beratungsstellen, Anlauf- und Fachstellen für häusliche Gewalt, kantonale Ombuds- und Schlichtungsstellen, Stellen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in unterschiedlichen institutionellen Kontexten sowie interne Anlauf- und Fachstellen verschiedener nationaler Verbände.
Angebot und Nachfrage klaffen auseinander
Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich auf, dass die Stellen- und Angebotslandschaft generell zwar breit und vielfältig ist, die Versorgung mit Hilfsangeboten je nach Wohnort, Alter, Geschlecht und Problemkontext jedoch ein unterschiedliches Niveau aufweist. Dies macht es für hilfesuchende Personen schwierig, passende Angebote ausfindig zu machen. Insbesondere für Personen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Täterschaft stehen, so zum Beispiel für Bewohnende in Institutionen, für ältere Menschen, für Ausländerinnen und Ausländer oder für Menschen mit Behinderung gibt es heute im Vergleich zum effektiven Bedarf zu wenig Angebote. Besonders prekär ist die Situation für Menschen mit Behinderung, die sexuelle Gewalt erlitten haben, oder wenn der Verdacht auf einen Übergriff besteht. Ausserhalb der Verbandslandschaft existieren landesweit praktisch keine Anlauf- oder Fachstellen, die über spezifische Fachkompetenzen im Umgang mit erwachsenen Menschen mit Behinderung verfügen. Zwar gaben 15 Anlauf- und Fachstellen an, entsprechende Fachkompetenzen zu besitzen. Eine nähere Prüfung jedoch ergab, dass nur gerade drei Stellen ihre Leistungen direkt an Menschen mit Behinderung adressieren. Und von diesen drei Stellen verfügt lediglich eine einzige über spezifische Fachkompetenzen in den psychischen, geistigen, körperlichen, sinnes- und kommunikationsbezogenen Behinderungsformen. Diese Stelle richtet sich jedoch nicht an Erwachsene, sondern ausschliesslich an Kinder und Jugendliche. Die restlichen zwölf Stellen wenden sich nicht an die Opfer selber, sondern in erster Linie an die Verantwortlichen von Institutionen oder Sport- und Freizeitvereine, die mit (Verdachts-)Fällen von sexueller Gewalt konfrontiert werden, sowie an Gewaltausübende. Folglich verfügen diese Stellen über keine spezifischen Fachkompetenzen im direkten Umgang mit Menschen mit Behinderung. Die nüchterne Bilanz: keine der befragten Anlauf- und Fachstellen ausserhalb der Verbandslandschaft versteht sich als kompetent in Bezug auf sexuelle Gewalt bei erwachsenen Menschen mit Behinderung. Im Bewusstsein, dass sexuelle Gewalt, Übergriffe und Grenzverletzungen bei Menschen mit einer Behinderung in bedeutend höherem Mass als im Durchschnitt der Bevölkerung vorkommen, stellt sich die dringende Frage, wo und wie betroffene erwachsene Menschen mit einer Behinderung, ihre Angehörigen sowie Betreuerinnen und Betreuer angemessen Hilfe und Beratung erhalten.
Mehr Kompetenz zu Behinderung in den bestehenden Diensten und eine nationale Anlauf- und Fachstelle könnten Abhilfe schaffen
Um die bestehenden Lücken an kompetenten Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Verdachtsfall oder bei erlittener sexueller Gewalt für Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Betreuungspersonen zu schliessen, braucht es Massnahmen auf regionaler und nationaler Ebenen. Die bestehenden Angebote müssen eine Fachkompetenz zur Beratung und Begleitung von Menschen mit einer Behinderung aufbauen. Nur so kann gewährleistet werden, dass auch dieser Personenkreis rasch und unkompliziert Hilfe findet. Damit dies möglich wird, braucht es zusätzlich eine nationale Stelle, ein eigentliches Kompetenzzentrum in Fragen sexueller Gewalt. Auch die im Rahmen der BFH-Studie befragten Expertinnen und Experten würden eine nationale Anlauf- und Fachstelle im Bereich sexueller Gewalt begrüssen. Nach ihrem Dafürhalten sollte sich das Tätigkeitsprofil einer nationalen Stelle schwergewichtig auf die Unterstützung der kantonalen Anlauf- und Fachstellen beziehen. Dazu zählen Vernetzung und Koordination sowie Fort- und Weiterbildung, Publikationen und Forschung, ferner auch politisches Lobbying, Eine nationale Koordination würde die lokalen, kantonalen und regionalen Anlauf- und Fachstellen auch dabei unterstützen, die erhaltenen Anfragen, welche nicht dem Angebot der jeweiligen Fachstelle entsprechen, richtig weiterzuvermitteln. Die Studie zeigt, dass dies den befragten Stellen heute sehr schwer fällt.
Für die verbandsübergreifende Arbeitsgruppe Prävention, welche die Bestandesaufnahme in Auftrag gegeben hat, ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Es darf nicht sein, dass gerade für besonders von sexueller Gewalt bedrohte Personengruppen – wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung – heute zu wenige bis gar keine Angebote vorhanden sind. Deshalb wünscht sich die Verbandsübergreifende Arbeitsgruppe Prävention, sich mit Kantonen, dem Bund, anderen zuständigen Stellen und Organisationen zu vernetzten, um Massnahmen zu prüfen und Fachwissen und Erfahrung auszutauschen. Dazu wird sie möglichst rasch eine Arbeitstagung einberufen.
Zum Download der Studie klicken Sie bitte auf den folgenden Link: Studie